Es kommt nicht selten vor, dass ich gefragt werde, ob und warum mir mein Beruf gefällt. Meine einfache Antwort ist jeweils etwa folgende: «Ja, der Beruf gefällt mir (immer) noch – es ist einer der vielfältigsten Berufe, den ich mir für mich vorstellen kann. Ich bin Vertrauensperson für eine Vielzahl von Kunden und seit Jahren auch Führungsverantwortlicher eines motivierten und funktionierenden Teams.»
Das «Ob» wäre damit geklärt, das «Warum» aber nur teilweise. Es ist die Entwicklung und das Funktionieren unserer Volkswirtschaft und der Weltwirtschaft, die mich besonders interessieren. Auch nach rund vierzig Jahren Berufserfahrung ist jeder Tag reichlich mit Neuem, Unbekanntem und Überraschendem befrachtet, um meine Neugierde und meinen Wissenshunger zu stillen.
Der Blick zurück auf das letzte Jahrzehnt beweist, wie ökonomische Grundverständnisse fundamental erschüttert werden können. Die Finanzkrise stellte zuerst die Banken- und dann auch die Finanzwelt auf den Kopf. Die Politik und die Notenbanken reagierten mit einer bisher nie dagewesenen Geldschwemme. Mit allen Mitteln wollte man drohende Rezessionen oder Deflationen bekämpfen. Eines der zusätzlich verschriebenen Medikamente waren Negativzinsen. Die erfreulichen Ergebnisse dieser Rosskur sind stabiles Wachstum, abnehmende Arbeitslosigkeit und geringe Inflation rund um den Globus. Im Einklang mit dieser Entwicklung boomen auch Aktien- und Immobilienmärkte.
Soweit so gut, die Wirtschaft hat sich beruhigt – zumindest vordergründig. Doch gibt es keine Nebenwirkungen? Ich denke schon, denn eine sehr wichtige «kleine Frage» wäre noch zu klären: Wie bringt man die Geldschwemme und damit wohl auch die Negativzinsen weg, ohne Kollateralschaden anzurichten? Verstehen Sie mich, liebe Leserin, lieber Leser, nicht falsch: Ich will damit nicht unterschwellig Horrorszenarien ankündigen. Gleichzeitig empfehle ich Ihnen aber, die Situation mit dem nötigen Respekt und auch mit gewisser Skepsis zu betrachten. Insbesondere empfehle ich Ihnen, wichtige Finanzgeschäfte mit Ihren persönlichen, langfristigen (strategischen) Bedürfnissen abzustimmen.
Beim Betrachten der heutigen Situation bereiten mir mögliche Blasenbildungen in Teilmärkten und die Folgen der Negativzinsen Sorgen:
Omnipräsent sind Veränderungen dank der «Digitalisierung». Ich finde diese Entwicklungen äusserst spannend, auch wenn sie für einzelne Branchen grosse Herausforderungen darstellen. In der Finanzwelt fallen mir in diesem Zusammenhang sogenannte Kryptowährungen auf. Es handelt sich dabei nicht um eigentliches Geld, sondern eher um elektronische Tauschmittel. Was ich dabei überhaupt nicht nachvollziehen kann und was mich darum sehr skeptisch macht, ist beispielsweise die Kursentwicklung der Kryptowährung «Ethereum»: +4’000% in 6 Monaten. Kann das gesund sein?
Der Blick auf den Schweizer Markt für Mehrfamilienhäuser animiert mich ebenfalls zum Nachdenken. Die Renditen für Anlageimmobilien tendieren seit Langem nach unten. Im Vergleich zu den sehr mageren Renditen für Obligationenanlagen erfreuen sich Immobilien-Anleger darum schnell an Renditen von 3-4%. Gleichzeitig nimmt in diesem Segment die Zahl der lehrstehenden Wohnungen zu und die Mietzinsen sinken. Was mich besonders beunruhigt, sind schweizweite Spitzenwerte für das Emmental und Oberaargau.
Zum Schluss noch zu meinem speziellen «Sorgenkind», den Negativzinsen. Wer Geld anlegen will, der bezahlt, und wer Geld benötigt wird dafür entschädigt. Ist das nicht eine «verkehrte Welt»? Die Ökonomen versuchen diese Situation zu erklären, jedoch immer mit dem Nachsatz, dass es sich nur um ein vorübergehendes Phänomen handeln kann. Auch ich hoffe sehr, dass dem so ist. Es sind nämlich Marktteilnehmer mit grossen finanziellen Mitteln, die von dieser Situation profitieren. Negativ betroffen sind dagegen vorweg Privatpersonen und Klein- und Mittelbetriebe. Selbstverständlich ist es auch für sie eine Wohltat, von sehr günstigen Hypotheken zu profitieren.
Zunehmend fühle ich mit ratlos und frage mich, ob die Nebenwirkungen des Negativzins-Regimes nicht dramatischer sein werden als wir momentan hoffen. Die Sparer werden bestraft und betroffen sind dabei auch die Versicherten in Pensionskassen. Umgekehrt wird belohnt, wer sich verschulden will. In Anbetracht hoher Finanzbedürfnisse betrifft dies besonders die öffentliche Hand.
Die Wirtschaftslehre kennt drei Produktionsfaktoren: Arbeit, Boden und Kapital. Ich frage mich, welche Folgen beispielsweise beim Faktor «Arbeit» zu erwarten wären, wenn auch hier so ungewöhnliche Instrumente wie Negativzinsen beim «Kapital» eingesetzt würden. Wären dies beispielsweise «Negativlöhne»? Wer Arbeit hat, bezahlt dafür, und ohne Arbeit wird man dafür entschädigt?
Sie fragen sich sicherlich, warum ich den Titel «Wo bleibt der Zinseszinseffekt?» gewählt habe. Bereits meine Eltern haben mich überzeugt und während meiner Ausbildung wurde mir bestätigt, dass ich mir mit regelmässigem Sparen meine Wünsche erfüllen kann. Das Ergebnis ist immer eine Frage der Ausdauer und die Verzinsung ist letztlich eine angenehme Nebenerscheinung. Wenn ich beispielsweise monatlich hundert Franken zur Seite lege, ergibt dies nach zwanzig Jahren mit einer Rendite von 3% knapp 33’000 Franken.
Keine oder gar negative Renditen machen mir aber einen gewaltigen Strich durch die Rechnung – nicht nur mir, sondern der ganzen Volkswirtschaft.